Zu den Blogbeiträgen Juni 2021

 

Thema des Monats: Hier & Jetzt

Unser zeitliches Erleben lässt sich in Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges einteilen. Die drei Dimensionen haben unterschiedliche positive Aspekte. So können wir z. B. in vergangenen schönen Erinnerungen schwelgen, in der Gegenwart live einem Konzert lauschen oder voller Vorfreude an das Treffen mit einem geliebten Menschen denken. Im Unterschied zur Gegenwart sind jedoch Vergangenheit und Zukunft Vorstellungen. Das bewusste Erleben ist nur in der Gegenwart, im Hier und Jetzt, möglich. So ist es ein großer Unterschied, ob ich einen Apfel esse oder ob ich mich daran erinnere einen gegessen zu haben oder mir vorstelle einen zu essen.

Alle 3 Dimensionen sind für uns jedoch gleichermaßen elementar wichtig. Ohne das Prospektive haben wir keine Perspektive und sind unfähig zu planen. Ohne die Retrospektive fehlen unsere Identität, unser Erfahrungsschatz, unsere Erinnerungen. Ohne das gegenwärtige Erleben verpassen wir das bewusste Erleben und Wahrnehmen.

Die drei Ebenen können jedoch auch jede für sich zu viel Raum fordern und in keinem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. So können Konflikte aus der Vergangenheit ein Dauerthema werden, das gegenwärtige Erleben blockieren und die Planung der Zukunft behindern. Genauso kann die (berechtigte oder unberechtigte) Angst vor einem zukünftigen Ereignis so stark werden, dass ein Entfalten der persönlichen Möglichkeiten verhindert wird. Oft geht das Beschäftigen mit Vergangenheit und Zukunft zu Lasten der Gegenwart.

Es ist kein Wunder, das der „Gelassenheitsspruch“ von Reinhold Niebuhr, bei den Anonymen Alkoholikern so beliebt ist. Zur Suchterkrankung gehört es, zu versuchen, der Realität zu entfliehen. Dieser Spruch fordert die Akzeptanz des nicht Beeinflussbaren, eine weise Art der Realitätserkennung und die Bereitschaft Dinge aktiv anzugehen die man verändern kann.

„Die Zukunft beunruhigt uns, die Vergangenheit hält uns fest, deshalb entgeht uns die Gegenwart.“
(Gustav Flaubert)

Nur in der Gegenwart ist das Leben live, sind Gestaltung und Erfahrung möglich. In der buddhistischen Lehre kommt der Gegenwart eine besondere Bedeutung zu. „Laufe nicht der Vergangenheit nach und verliere Dich nicht in der Zukunft. Das Leben findet im Hier und Jetzt statt“ (Buddha). Eine Denkweise, die starken Einfluss auf die humanistische Psychologie etwa bei Pearls oder Rogers hatte. In der Gestalttherapie ist die „awareness“, das Gewahrsein im Hier und Jetzt ein zentrales Konzept. Auch in modernen Meditationsformen kommt Achtsamkeit (mindfulness) eine wesentliche Bedeutung zu. Von Kabat-Zinn wird das so benannt: „Achtsamkeit beruht auf einer bestimmten Weise aufmerksam zu sein: bewusst im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu urteilen.“ In der achtsamkeitsbasierten Rückfallprävention bei Suchtmittelabhängigkeit (Bowen, Chawla, Marlatt) spielt dieses Konzept eine zentrale Rolle.

Suchtmittel verändern die Wahrnehmung und werden deswegen genommen. Zur Überwindung von Abhängigkeit gehört es wieder in Kontakt zur eigenen Wahrnehmung zu treten und dieser persönlichen Wahrnehmung wieder zu vertrauen. Hinzu kommt, die Realität wieder als einen harten aber auch guten Lebensort zu erkennen.

Vielleicht kommt Dasein von Da-sein also einer bewussten Präsens, die es wieder zu entdecken gilt: Präsenz mit allen Sinnen und der Nutzung persönlicher Fähigkeiten. Vielfach sind wir bei manchem, was wir tun schon gedanklich mit dem beschäftigt, was danach kommt. Etwa, dass wir beim Frühstück schon an den Weg zur Arbeit zu denken, auf dem Weg zur Arbeit an mögliche Probleme des Arbeitstages, bei der Arbeit an ein notwendiges Konfliktgespräch mit der Ehefrau am Abend und so weiter. Sicher denken wir alle immer wieder einmal in dieser zukunftsbezogenen Art. Sie hält uns jedoch davon ab bei dem zu sein, was im Moment passiert. Mehr im gegenwärtigen Moment zu sein kann man trainieren. Nicht, um es perfekt zu beherrschen, sondern um sich dem anzunähern. Dies kann z. B. mit Meditation geschehen.

  1. Übung: Meditation. Stellen Sie sich einen Timer/Kurzzeitwecker auf 10 Minuten. Suchen Sie sich einen ruhigen, entspannten Sitzplatz, an dem Sie nicht gestört werden. Setzen Sie sich aufrecht hin und achten Sie auf Ihren Atem. Spüren Sie den Atem ein und ausströmen. Atmen Sie bis in den Bauch hinein. Lassen Sie die Vergangenheit von sich abfallen und auch die Gedanken was als nächstes kommt los. Lassen Sie diese Gedanken quasi zu einer Tür rein und zur anderen wieder raus gehen. Seien Sie jetzt hier. Spüren Sie den Körper von Kopf bis zu den Füßen. Achten Sie auf Ihren Atem. Gedanken werden durch ihren Kopf wandern, nehmen Sie sie wahr und lassen Sie sie los. Wenn sie wichtig sind, kommen sie schon wieder. Konzentrieren Sie immer wieder auf Ihren Atem. Jedes Mal wenn Sie diese Übung machen, wird es Ihnen einige Sekunden länger gelingen, den Fokus auf den Atem zu legen und Gedanken zwar wahrzunehmen, aber dann auch los zu lassen. Rekeln Sie sich wenn der Wecker sich meldet. Dies waren 10 Minuten nur für Sie, ohne viel zu tun und vielleicht doch viel zu erleben. Bauen Sie die Übung in Ihren Tag ein, gerne auch etwas länger oder kürzer.
  2. Übung: Hier & Jetzt spüre ich...
    Suchen Sie sich wieder einen ruhigen Ort und stellen den Wecker auf 10 Minuten. Setzen Sie sich hin und nehmen einige tiefe Atemzüge. Fragen Sie sich dann:
    • Hier und Jetzt sehe ich?
    • Hier und Jetzt höre ich?
    • Hier und Jetzt spüre ich (körperlich)?
    • Hier und Jetzt fühle ich?

Fangen Sie immer wieder von vorne an. Bei dieser Übung kann es leichter sein, das Gedankenwandern zu unterbrechen, da der Kopf beschäftigt ist. Die Übung soll dazu beitragen den Kontakt zur Gegenwart zu fördern und mehr von sich zu spüren.

  1. Übung: Bewusst essen. Oft essen wir einfach so, eher nebenbei. Dabei geht die Bewusstheit und der Genuss verloren. Bitte versuchen Sie beim nächsten Essen das Besteck immer wieder abzulegen und sich auf das zu konzentrieren was in Ihrem Mund passiert. Kauen und schmecken Sie richtig lange. Sie werden überrascht sein, wie viel mehr Geschmackserfahrungen möglich sind. Dazu reicht auch ein Eis oder eine Süßigkeit. Lassen Sie dies langsam auf Ihrer Zunge zergehen. Nehmen Sie sich Zeit und Sie werden die Entdeckung machen, wie wenig wir normalerweise von dem möglichen Genusserlebnis wahrnehmen.

Auf den Lebensverlauf bezogen kann man sich fragen, ob man das aus seinem Leben macht, was man daraus machen möchte oder zumindest viel dafür tut um da zu sein, wo man sein will.

Bronnie Ware eine Palliativpflegerin, die lange Jahre in einem Hospiz arbeitete, hat zahlreiche Menschen in ihrer letzten Lebensphase begleitet, sie nach ihrer Lebensbilanz befragt und daraus ein Buch gemacht. Bemerkenswert war, dass nur wenige Personen bedauerten bestimmte Dinge getan zu haben, sondern bedauerten bestimmte Dinge nicht getan zu haben und dabei eher die Erwartungen anderer erfüllt zu haben. Ebenso wurde vielfach bedauert zu viel gearbeitet und zu wenig gewagt zu haben, die eigenen Gefühle auszudrücken.

Der Refrain eines Songs von Asaf Avidan illustriert das: „Eines Tages werden wir alt sein Baby und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können.“ („One day Baby we will be old and think of all the stories we could have told.”)Der Refrain eines Songs von Asaf Avidan illustriert das: „Eines Tages werden wir alt sein Baby und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können.“ („One day Baby we will be old and think of all the stories we could have told.”)

Eine kleine Geschichte, die auch dazu passt: Ein wirklich sehr viel beschäftigter Mann starb plötzlich und unerwartet. Die Kinder, die wenig von ihm gehabt hatten, überlegten lange, was Sie auf seinen Grabstein schreiben sollten, auch damit sie und andere etwas von Vaters Tod lernen könnten. Nach langem Überlegen entschieden sie sich dafür:

„Hier ruht der Mann, der morgen anfangen wollte zu leben.“

Eine gute Alternative ist da die Aufforderung des römischen Dichters Horaz: CARPE DIEM. Also nutze den Tag, genieße den Augenblick oder wörtlich gesagt pflücke den Tag. Auch das bedarf der Übung, sich täglich bewusst zu machen, was für uns persönlich wirklich wertvoll erscheint . Wenn wir uns dann jedoch immer wieder sagen können, heute habe ich einen Moment länger bewusst den Tag so genutzt, wie ich das wollte, sind wir auf einem guten Weg.


Gedanken zur Sucht: Abschied und Neubeginn

Die Abkehr vom Alkohol ist mit Abschied verbunden. Zunächst einmal ist dies der Abschied vom Rausch. Dafür gibt es keinen Ersatz. Die Flucht aus der Wirklichkeit gelingt auf andere Arten nur mangelhaft, egal wieviel Kaffee oder Schokolade man konsumiert. Wenn man also davon ausgeht, dass es für das Gift keine Entsprechung gibt, heißt das unter veränderten Bedingungen das Leben weiter zu führen. Die Realität dringt ohne Filter ins Bewusstsein ein. Die Welt ist ohne Unterbrechung online. Daran gilt es sich neu zu gewöhnen.

Genau betrachtet ist fraglich, ob der zuletzt erlebte Rausch überhaupt noch der damalige Rausch war, an den man sich erinnert aus den ersten Erfahrungen mit dem Suchtmittel. Damals gab es ein „Wow-Erlebnis“, das dem Stoff eine Begehrlichkeit zuschrieb. Wie bei allen anderen Erfahrungen verblasst das, eine Gewöhnung tritt auch hier ein. Der Rausch kommt kürzer und weniger attraktiv daher. Nichts destotrotz wird er weiter umso heftiger gesucht, als müsse er doch irgendwann wieder gefunden werden. Die letzte Zeit der Sucht ist aber auch von der - mehr oder weniger im Alkoholnebel verborgenen - Gewissheit begleitet, als ob etwas mit hoher Geschwindigkeit auf eine Wand zufährt.

Die Abhängigkeit wird zu einer Fremdbestimmung, zum Zwang, zum Gefängnis. Begrüßt wird man nach dem Abschied von der Sucht von Dingen, die im ersten Moment nicht so spektakulär daher kommen. Dazu gehört ein gutes Gewissen zu haben und die Welt neu zu entdecken. Man weiß genauer was gestern war und heute möglich ist.

Ich finde es, nach hunderten von Gesprächen mit Suchtkranken in unterschiedlichen Phasen ihrer Erkrankung, weiterhin besonders faszinierend, dass ich bei vielen von ihnen erleben durfte, dass sie – nach einer Auseinandersetzung mit dem Suchtgeschehen - zu einer besonders bewussten, lebendigen und zufriedenen Lebensform gefunden hatten. Das Schöne dabei war, das viele von ihnen bewusster und selbstsorgender lebten als das der durchschnittliche Zeitgenosse tut. In der Überwindung von Abhängigkeit kann durchaus ein großer Gewinn liegen. Man kennt die Tiefen des Lebens und hat einen Neubeginn gestartet (oder arbeitet noch daran).

  • Übung: chreiben Sie bitte einen Brief an ihr Suchtmittel, mit Anrede und Verabschiedung. Stellen Sie in dem Brief das Verhältnis in den Mittelpunkt, dass sie inzwischen zu der Droge haben. Legen Sie den Brief dann erstmal weg und nehmen Sie sich Tage später Zeit ihn durchzulesen und zu beurteilen. Wie sehr ist der Brief kein Liebesbrief? Wie sehr ist er ein radikaler Abschiedsbrief? Deutet einiges darauf hin, dass der Alkohol keine Möglichkeit mehr finden wird, sich anzuschleichen? Falls Sie die Möglichkeit haben, holen Sie sich Rückmeldung von Personen die Sie schätzen, wie der Brief auf sie wirkt.

Virtueller Glückskeks

Vielleicht regen diese Gedanken des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges dazu an den Augenblick zu schätzen und auf persönliche Art zu genießen.

Das Leben besteht aus Augenblicken

Das Leben besteht aus Augenblicken Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, im nächsten Leben würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen.

Ich würde nicht so perfekt sein wollen, ich würde mich mehr entspannen. Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin, ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen. Ich würde nicht so gesund leben. Ich würde mehr riskieren, würde mehr reisen, Sonnenuntergänge betrachten, mehr bergsteigen, mehr in Flüssen schwimmen.

Ich war einer dieser klugen Menschen, die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten, freilich hatte ich auch Momente der Freude, aber wenn ich noch einmal anfangen könnte, würde ich versuchen, nur mehr gute Augenblicke zu haben.

Falls du es noch nicht weißt, aus diesen besteht nämlich das Leben, nur aus Augenblicken; vergiss nicht den jetzigen.
Jorge Luis Borges


Infobox

Macht Religion zufrieden?

In der Tat. Eine Reihe von Studien aus verschiedenen Ländern zeigen, dass religiöse Menschen zufriedener sind. Das mag eine Reihe von Gründen haben.

Der Glaube kann Halt und ein sich aufgehoben fühlen in der Beziehung zu Gott vermitteln. Die Religion mag als Quelle des Trostes gesehen werden und gibt eine Perspektive auch bezogen auf den unabwendbaren Tod. Voraussetzung für einen positiven Effekt der Religion ist die Freiwilligkeit und Selbstbestimmtheit der religiösen Entscheidung und ein aktives religiöses Engagement, was sich auch auf das soziale Engagement in anderen Bereichen auswirkt.

Nicht zu unterschätzen ist jedoch auch, dass das religiöse Engagement indirekt Effekte beinhaltet, die Zufriedenheit fördern. Dazu gehört in der soziale Kontakt in der Gemeinde und häufig Unterstützung im Sinne von Mitgefühl und Nächstenliebe.

Selbstbestimmte Religion kann positiv zur Sinnfindung und einer Strukturierung des Lebens beitragen.


Forsetzungsrubik 2021

Mehr positive Gefühle ins Leben bringen - Interesse

„Kein Grashalm wächst, ohne dass es mich interessiert“ sagte Thomas Jefferson. Er meinte damit seine Aufgeschlossenheit für Neues, seine Wissbegierigkeit und Aufmerksamkeit. Das Gegenteil, der Interessenverlust, ist ein Kernmerkmal der Depression und tritt auch nach längerer Suchterkrankung auf. Die Offenheit (Openness) für Erfahrungen gehört zu den Big Five der Persönlichkeitspsychologie. Sie ist ein positives Persönlichkeitsmerkmal und ist verbunden mit vielseitigen Interessen, Kreativität und dem Wunsch nach Abwechslung.

Dabei ist es auch schön, ein Ziel von Interesse zu sein. Das gelingt um so eher, je interessanter ich bin, was damit zusammen hängt Interessen zu haben.„Das Interesse, was der Mensch unmittelbar empfindet ist die Quelle seines Lebens.“(Johann F. Hebart)

  • Übung: Probieren Sie Neues aus. Was haben sie ewig nicht mehr gemacht? Was glauben Sie, was würde Ihre Umgebung Ihnen nicht zutrauen? Probieren Sie es aus. Was war früher eine Leidenschaft von Ihnen? Was hält Sie ab, diese wieder zu praktizieren? Planen Sie neue Dinge sehr konkret und erzählen Sie davon Freunden und Bekannten.
  • Übung: Wie können Sie sich in einen Zustand der HEITERKEIT versetzen? Untersuchungen zeigen, dass schon das Anschauen eines kurzen heiteren Filmes Versuchspersonen in die Lage versetzt Aufgaben leichter zu lösen. Geben Sie sich selbst solch einen Anstoß, wie auch immer. Schreiben Sie auf ihren Arm z. B. „Heiter weiter“ oder haben Sie eine bessere Idee? Machen Sie diesen Tag zum Tag der Heiterkeit.
  • Übung: Probieren Sie Neues aus. Was haben sie ewig nicht mehr gemacht? Was glauben Sie, was würde Ihre Umgebung Ihnen nicht zutrauen? Probieren Sie es aus. Was war früher eine Leidenschaft von Ihnen? Was hält Sie ab, diese wieder zu praktizieren? Planen Sie neue Dinge sehr konkret und erzählen Sie davon Freunden und Bekannten.
  • Übung: Durchbrechen Sie Routinen. Routinen erleichtern das Leben und laufen oft wie ein Reflex ohne Nachdenken ab. Machen Sie das mal anders oder auch gegenteilig. Vielleicht ist das sogar schöner, zumindest ist es eine Abwechslung oder neue Erfahrung.

Also gehen Sie Ihren Spaziergang mal anders herum, Bestellen Sie in Ihrem Lieblingsrestaurant (wenn es bald wieder auf ist) mal was ganz anderes, bringen Sie Ihrem Partner/in mal Blumen mit (oder keine, wenn Sie sonst welche mitbringen). Machen Sie Ihr Leben interessanter und Ihren Interessenhorizont vielfältiger.

Bis zum nächsten Blogeintrag im Juni Ihr und Euer Dr. Arnulf Vosshagen

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