Zu den Blogbeiträgen Herbst 2022

 

Leitthema: Unsere seelischen Grundbedürfnisse

Das Leitthema der Bloginhalte kreist diesmal um unsere Bedürfnisse und ob sie ausreichend befriedigend sind. Sprich, ob wir sagen müssen: „I can´t get no satisfaction“ oder ob wir die Dinge bekommen, die wir uns wünschen oder zumindest, die die wir brauchen. Das kennen wir von den Rolling Stones („Du kannst nicht immer das bekommen was willst – aber wenn Du Dich anstrengst bekommst Du was Du brauchst.“) Vielleicht ist das für viele von uns ein neues Motto in einer Zeit, in der wir lernen müssen uns einzuschränken.

Bedürfnisse sind etwas Persönliches. Sie haben mit unserer Entwicklungsgeschichte zu tun und der Umgebung, in der wir aufgewachsen sind. Sie stehen im engen Bezug zu unseren Zielen, Einstellungen und Werten.

Dem gegenüber sind Grundbedürfnisse bei allen Menschen ähnlich und spiegeln das, was man als Mensch braucht. Auch wenn Menschen sich unterscheiden im Ausmaß dessen, wie sehr Ihnen die Befriedigung von Grundbedürfnissen wichtig ist, so ist deren grundsätzliche Befriedigung wichtig um dauerhaft gesund zu bleiben. Neben den körperlichen Grundbedürfnissen wie Atmen, Nahrung, Schlaf oder Sexualität gibt es psychologische Grundbedürfnisse wie Sicherheit und Nähe.

Bei den körperlichen Grundbedürfnissen kann man davon ausgehen, dass sie sich stark in den Vordergrund drängen, wenn sie nicht befriedigt werden. Bei akutem Schlafmangel, Hunger, Atemnot etc. sind z. B. Selbstwertprobleme zunächst einmal uninteressant, solange bis akute Mangelerscheinungen beseitigt sind.

Die chinesische Lebensweisheit „Glück ist die Abwesenheit von Schmerz“ trifft gewiss für starke Schmerzen zu, die gegen Schmerzmittel resistent sind. Wenn das Leben seinen ungestörten Verlauf nimmt, bekommen wir oft gar nicht mit, dass das nicht selbstverständlich ist.

Wer Schmerz und Leid kennt, ist jedoch besser in der Lage problemfreie Zeiten zu genießen. Überhaupt unterscheiden sich seelische und körperliche Grundbedürfnisse. Bei den körperlichen Bedürfnissen gibt es einen Bereich in dem z. B. das Bedürfnis nach Nahrung nach dem Einnehmen einer Mahlzeit normalerweise für eine gewisse Zeit befriedigt ist. Seelische Bedürfnisse sind jedoch im Sinne eines Entwicklungs- und Wachstumsbedürfnis ständig wirksam. Sie sind die Grundlage unseres Handelns und unserer Selbstverwirklichung. Das bekannteste und älteste Bedürfnismodell stammt von dem Psychologieprofessor Abraham H. Maslow. Oft wird es als Bedürfnispyramide dargestellt und erweckt den Eindruck, als ob Bedürfnisse aufeinander aufbauen und erst die unteren Bedürfnisse befriedigt sein müssen, um sich den darüber liegenden zuwenden zu können. Dies war jedoch nicht die zentrale Absicht von Maslow. Er hält es für möglich, dass auch in Zeiten wo z. B. das Sicherheitsbedürfnis nicht befriedigt ist dennoch andere Bedürfnis z. B. nach sozialem Kontakt grundsätzlich vorhanden sind und gelebt werden wollen.

Das Modell von Maslow beinhaltet 5 Grundbedürfnisse:

  • Körperliche Bedürfnisse (Nahrung, Sauerstoff, Schlaf etc)
  • Sicherheit
  • Soziale Bedürfnisse
  • Anerkennung und Wertschätzung
  • Selbstverwirklichung (Selbstaktualisation)

Maslow betont in seinem Modell das Bedürfnis nach Wachstum und Weiterentwicklung in besonderem Maße. Die ersten 3 Bedürfnisse sind für ihn Defizitbedürfnisse, die wir deutlich spüren, wenn sie nicht erfüllt werden. Dabei bezieht sich Sicherheit auf die körperliche Unversehrtheit, aber auch etwa den Erhalt des Arbeitsplatzes. Die sozialen Bedürfnisse nach Liebe, Freundschaft und Zugehörigkeit sind für ihn Bedürfnisse, die wir deutlich spüren, wenn sie unbefriedigt sind. Zu den Wachstumsbedürfnissen Anerkennung und Wertschätzung gehört auch das Ich-Bedürfnis nach Selbstwert, Selbstvertrauen, Erfolg und Unabhängigkeit. Eine besondere Position nimmt die Selbstaktualisierung ein, bei der es darum geht, seine eigenen Potentiale auszuschöpfen und eine gute Version seiner eigenen Möglichkeiten zu leben.

ÜBUNG: Bitte fragen Sie sich, an Hand der 5 Grundbedürfnisse von Maslow (siehe oben) ob Sie aktiv dazu beitragen ihre Bedürfnisse gut zu befriedigen:

  • Wie gut sorgen Sie für gute Ernährung, ausreichenden Schlaf, Bewegung etc. zwischen 0 und 10 (bitte die Ergebnisse notieren).
  • Wie sehr sind Ihre Sicherheitsbedürfnisse befriedigt? Dies betrifft die persönliche Sicherheit, soziale Absicherung und Angstfreiheit. Schätzen Sie die Erfüllung Ihrer Sicherheitsbedürfnisse zwischen 0 und 10 ein.
  • Wie zufrieden sind Sie mit der Befriedigung Ihrer sozialen Bedürfnisse zwischen 0 und 10. Dies betrifft romantische Beziehungen, Freunde, Bekannte, Verwandte etc.
  • Haben Sie zwischen 0 und 10 genug Anerkennung und Wertschätzung von außen und Selbstakzeptanz durch Ihre eigene Person.
  • Wie sehr verwirklichen Sie, zwischen 0 und 10 Ihre Möglichkeiten und leben Ihre bestes mögliches Selbst.

Maximal sind 50 Punkte möglich. Wenn sie 30 bis 40 Punkte erreicht haben sorgen Sie recht gut für sich. Schauen Sie sich bitte genau an, bei welcher Frage Sie unter 8 Punkten liegen und fragen Sie sich bitte, woran das liegt. Was wäre konkret zu tun, um z. B. auf 9 Punkte zu kommen?

Eine interessante Ergänzung zu Maslows Ansatz stellt die neuere Theorie von Deci & Ryan (2000) bezogen auf psychologische Grundbedürfnisse da. Der Ansatz nennt sich „Selbstbestimmungstheorie“. Die Forscher beschränken sich auf 3 positive psychologische Grundbedürfnisse und vermeiden es, defizitorientierte Bedürfnisse zu berücksichtigen. Benannt werden grundlegende, universelle und wachstumsorientierte Aspekte.

  1. Autonomie (selbst entscheiden)
  2. Kompetenz (eigene Wirksamkeit erleben)
  3. Beziehungen (Verbundenheit erleben)

Mit der Autonomie betonen die Autoren die Freiheit und Unabhängigkeit, die eine Entscheidung erst zu einer solchen macht. Dabei ist der soziale Rahmen zu berücksichtigen. Nicht immer ist es am Arbeitsplatz möglich, weitgehend autonom Entscheidungen zu treffen. Aus der Arbeitspsychologie wissen wir jedoch, dass die Arbeitsplätze mit großen Entscheidungsspielräumen im allgemeinen zu einer großen Jobzufriedenheit führen. Autonomie ist auch bei der Entscheidung für die Abstinenz zu berücksichtigen, da eine stabile Abstinenzentscheidung auf Dauer nur selbstbestimmt und frei stattfinden kann.

Kompetenz ist das Bewusstsein eigener Stärken und deren Umsetzung. Dies trägt zum Selbstwertgefühl bei. Dass jeder Stärken hat, wurde ausführlich schon in den Bloginhalten vom Juli/August 2021 beschrieben (Siehe: „Stärken – sehen, schätzen, stärken“). Sucht führt, zumindest auf dem Weg zum Höhepunkt, dazu dass Kompetenzen verloren gehen und das Selbstwertgefühl sinkt. Gerade am Beginn der Abstinenz ist es besonders schwer und wichtig, sich wieder als kompetent erleben zu können. Dazu gehören viele kleine Kompetenzerfahrungen, die zu fördern sind.

Bindung ist das wichtigste Grundbedürfnis und kann damit nicht intensiv genug betont werden. Gemeint sind Bindungen romantischer Art, aber genauso freundschaftlicher Art, Bekannte, Verwandte, Arbeitskollegen etc. Nicht unbedeutend sind auch die kleinen Begegnungen mit anderen Menschen im Alltag.


Gedanken zur Sucht: Bedürfnisse und Sucht

Während meiner jahrzehntelangen therapeutischen Arbeit mit Suchtkranken stieß ich immer wieder auf das Phänomen, dass es den Betroffenen schwer fiel, zu benennen, was wirklich gut für sie war und das auch zu verfolgen. Hinzu kam die Schwierigkeit bei vielen Dingen sagen zu können, wann genug, genug ist. Das gilt für Schokolade, Zigaretten, Essen aber auch z. B. für Sport. Meine Erfahrung zeigte mir, dass diejenigen, die allmählich lernten, was gut für sie war und dabei auch ein für sie gutes Maß fanden, eine gute Prognose hatten. Klaus Grawe (2004), der einflussreiche Psychologieprofessor und Begründer der Allgemeinen Psychotherapie nennt 4 Grundbedürfnisse, die denen von Maslow ähneln (Orientierung, Bindung, Selbstwerterhöhung) - zusätzlich nennt er Lustsuche/Unlustvermeidung. Dabei handelt es sich um die persönliche Bewertung eines Menschen, was als lustvoll erlebt wird. Gerade bei Suchtkranken erscheint es mir wichtig zu sein, gut für eine ausreichende Anreicherung mit lustvollen Erfahrungen zu sorgen, die frei von Nebenwirkungen sind..

ÜBUNG: Welche lustvollen Erlebnisse tuen mir in meinem Leben wirklich gut. Was sollte ich häufiger praktizieren?

Die Suchtmittelabhängigkeit nahm in der Regel ihren Ausgang in dem Wunsch, belastendes Erleben durch das Suchtmittel in den Hintergrund schieben zu können und die Welt nach Möglichkeit durch eine rosa Brille sehen zu können.

Lust am Leben muss ohne Suchtmittel eine Lust sein, die auch am Folgetag noch gut ist und auch die anderen Grundbedürfnisse mit einschließen. Bemerkenswert ist, dass die Grundbedürfnisse von Grawe oder Maslow nicht mit Suchtmittelkonsum vereinbar sind. So kann z. B. körperlichen Bedürfnissen nicht Genüge getan werden, da durch den Missbrauch eine Schädigung stattfindet. Sicherheit ist nicht gewährseistet, da Risiken unter der Suchtmittelwirkung eingegangen werden. Ebenso sind soziale Beziehungen eingeschränkt und Anerkennung und Selbstverwirklichung reduziert.

Die Folgen einer fortgesetzten Suchtmittelabhängigkeit lassen sich gut an einer geringen Berücksichtigung der Grundbedürfnisse erkennen und beschreiben. Alle Grundbedürfnisse leiden unter einer Suchterkrankung. Zunächst scheint das Suchtmittel alle Bedürfnisse zu befriedigen oder zum Schweigen zu bringen. Auf Dauer leiden jedoch Bindungen, Kompetenzen und die Qualität von Beziehungen. Im Sinne eines Neuanfangs steckt eine wirksame Suchtprophylaxe in der Berücksichtigung der Grundbedürfnisse.

ÜBUNG:

  • Wie hat sich der Suchtmittelkonsum auf meine Autonomie ausgewirkt?
  • Wie hat sich der Suchtmittelkonsum auf meine Kompetenz ausgewirkt?
  • Wie hat sich der Suchtmittelkonsum auf meine Beziehungen ausgewirkt?

An welchem Punkt bin ich noch zufrieden mit meiner Entwicklung?


Virtueller Glückskeks: Desiderata von Max Ehrmann (1927)

Das folgende Gedicht von Max Ehrmann ist auch unter dem Titel, die Lebensregeln von Baltimor bekannt geworden. Es macht Mut, den eigenen Weg zu gehen, man selbst zu bleiben und fortgesetzt auch an das Gute zu glauben. Es ergänzt die Suche nach der Befriedigung von Grundbedürfnissen und hilft, auch in schwierigen Zeiten seinen Weg zu gehen.

Gehe ruhig und gelassen durch Lärm und Hast und sei des Friedens eingedenk, den die Stille bergen kann. Stehe, soweit ohne Selbstaufgabe möglich, in freundlicher Beziehung zu allen Menschen. Äußere deine Wahrheit ruhig und klar und höre anderen zu, auch den Geistlosen und Unwissenden; auch sie haben ihre Geschichte.

Meide laute und aggressive Menschen, sie sind eine Qual für den Geist. Wenn du dich mit anderen vergleichst, könntest du bitter werden und dir nichtig vorkommen; denn immer wird es jemanden geben, der größer oder geringer ist als du. Freue dich deiner Leistungen wie auch deiner Pläne.

Bleibe weiter an deinem eigenen Weiterkommen interessiert, wie bescheiden es auch immer sein mag. Es ist ein echter Besitz im wechselnden Glück der Zeit. In deinen geschäftlichen Angelegenheiten lass Vorsicht walten, denn die Welt ist voller Betrug. Aber dies soll Dich nicht blind machen gegen gleichermaßen vorhandene Rechtschaffenheit; viele Menschen ringen um hohe Ideale; und überall ist das Leben voller Heldentum.

Sei du selbst; vor allen Dingen heuchle keine Zuneigung. Noch sei zynisch, was die Liebe betrifft; denn auch im Angesicht aller Dürre und Enttäuschung ist sie doch immerwährend wie wachsendes Gras.

Ertrage freundlich und gelassen den Ratschluss der Jahre, gib die Dinge der Jugend mit Grazie auf. Stärke die Kraft des Geistes, damit sie dich im plötzlich hereinbrechenden Unglück schütze. Aber beunruhige dich nicht mit Einbildungen. Viele Befürchtungen sind Folge von Erschöpfung und Einsamkeit. Bei einem heilsamen Maß an Selbstdisziplin sei gut zu dir selbst.

Du bist ein Kind des Universums, nicht weniger als die Bäume und die Sterne. Du hast ein Recht, hier zu sein. Und ob es dir nun bewusst ist oder nicht: Es gibt keinen Zweifel, das Universum entfaltet sich wie vorgesehen.

Darum lebe in Frieden mit Gott, was für eine Vorstellung auch immer du von ihm hast und was immer dein Mühen und Sehnen ist. In der lärmenden Wirrnis des Lebens erhalte dir den Frieden mit deiner Seele.

Trotz all ihrem Schein, der Plackerei und zerbrochenen Träumen ist diese Welt doch wunderschön.

Sei achtsam. Strebe danach, glücklich zu sein.

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